Liebe Genoss_innen,
in den vergangenen Monaten haben sich die Fronten um den Nahost-Konflikt innerhalb der Linken immer weiter verschärft. Dies schlägt sich nicht nur in inhaltlichen Debatten nieder, sondern auch im konkreten Umgang unter Linken in der Bündnisarbeit, unseren gemeinsamen Räumen und auf der Straße.
Unabhhängig davon, wie man sich in diesem Konflikt positionieren mag, scheint es zunehmend notwendig, dass wir darüber sprechen, wie wir miteinander umgehen!
In den letzten Wochen und Monaten haben sich die Debatten auf den lokalen Diskussionsplattformen soweit verschärft, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung und Dispute miteinander kaum noch möglich sind, das ist zutiefst bedauerlich. Was jedoch darüber weit hinausgeht und nicht hinnehmbar ist: Insbesondere antisemitismuskritische Linke und jene, die Israels Rolle als notwendigen Schutzraum jüdischen Lebens bedingungslos verteidigen, sehen sich zunehmend der Diffamierung ausgesetzt. Immer wieder müssen sie sich als Faschist_innen (wobei hier in der Regel von den Vortragenden nicht gegendert wird) titulieren lassen. Linke, die seit Jahren in antifaschistischen, feministischen und antikapitalistischen Strukturen aktiv sind, mit denen man auf vielen gemeinsamen Vorträgen, Kundgebungen und anderen politischen Aktionen gewesen ist, werden auf einmal in einen Topf geworfen mit gewaltbereiten Rechtsextremen und anderen Nazis. Hier wird nicht nur der politische Aktivismus und die politische Haltung von Genoss_innen infrage gestellt bzw. wohl eher vollkommen geleugnet, sondern auch die aktuell akute Bedrohung durch tatsächliche Faschist_innen (man siehe z.B. die Vorwürfe im aktuell laufenden Prozess gegen Knockout 51 in Jena) relativiert.
Damit ist jedoch noch nicht genug: Antisemitismuskritische Linke werden nicht mehr nur als Faschist_innen tituliert, sondern zunehmend behandelt, als stellten sie eine ähnliche Bedrohung dar. In den letzten Monaten haben sich Bedrohungen gegenüber diesen Linken gehäuft. Diese reichen von Beleidigungen über Veröffentlichung von Klarnamen, bishin zu konkreten Gewaltandrohungen und Verfolgungsepisoden.
Zuletzt kam es während und nach der israelfeindlichen Demo am 10. Juli in Jena unter dem Motto „Stoppt den Genozid in Palästina“ und dem Gegenprotest („Gegen jeden Antisemitismus – Für eine Zukunft in Frieden“) wieder zu absolut grenzüberschreitenden Vorkommnissen. Bereits während des Gegenprotests mussten sich Teilnehmer_innen von Personen der anderen Kundgebung wie Nazis abfilmen/abfotografieren lassen. Bei den Filmern handelte es sich um Menschen aus der Jenaer Ultra-Szene, die sonst durchaus auch bei anderen linken Veranstaltungen Ordner_innen stellen oder als Schutz fungieren sollen. Es ist an Absurdität kaum zu überbieten, dass die Menschen, die uns sonst auf anderen Demos schützen sollten, hier plötzlich zur Bedrohung wurden und offensichtlich die in anderem Kontext durchaus als Genoss_innen empfundenen Teilnehmer_innnen zum Feind erklärten, der für welche Zwecke auch immer abgefilmt werden muss. Dabei blieb es jedoch nicht. Im Nachgang wurden Teilnehmer_innen des Gegenprotests damit bedroht, dass ihre Wohnorte bekannt seien und die nächsten Wochen ungemütlich werden würden. Bereits in der Vergangenheit kam es aus ebendiesem Umfeld zu Gewaltandrohungen und Verfolgungen durch die Stadt.
Aus unserer Sicht sind diese Ereignisse inakzeptabel – losgelöst davon, wo man sich in diesem Konflikt positionieren mag. Es kann nicht sein, dass wir so miteinander umgehen. Wovon wir hier sprechen, ist Gewalt. Gewalt von Linken gegen Linke. Ein solches Verhalten bricht mit dem Minimalkonsens einer linken Solidarität, die trotz inhaltlicher Differenzen Bezugspunkt unseres politischen Handelns sein sollte.
Dies ist ein Appell an alle, in die Reflexion zu gehen. An die Personen, die solche Bedrohungen als Mittel der Einschüchterung nutzen, aber auch an alle, die ebendieses Verhalten auf ihren Kundgebungen/Veranstaltungen dulden.
Hiermit soll keine weitere inhaltliche Debatte eröffnet werden, sondern Anregung dafür gegeben werden, für sich und innerhalb seiner Strukturen zu überdenken, wie weit Situationen in den letzten Monaten eskaliert sind, was unsere Werte sind und wie wir miteinander umgehen wollen.
Kritik & Intervention